Hey, mein Freund,
ich hoffe, du hast dich heute nicht allzu sehr gelangweilt. Dies scheint ja die aktuelle Sorge vieler zu sein, die zuhause sind und sich beklagen, dass sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen. Ich für meinen Teil habe bis gerade eben einen sehr spannenden Krimi-Zweiteiler mit Heino Ferch gesehen, während ich nebenher versuchte, in meiner Familien-Gruppe den ein oder anderen Witz einzustreuen, um die Stimmung aufzulockern, da sich nun der Großteil meiner Lieben zuhause befindet, entweder im Home-Office oder im „Hausarrest“.
Bis auf meine Mutter natürlich, die als Krankenschwester weiterarbeiten wird. Komme, was da wolle. Jedenfalls habe ich geschrieben, dass sie alle herzlichst nicht zu meinem Geburtstag am Samstag eingeladen sind, da ich es in der aktuellen Lage nicht guten Gewissens riskieren kann, so viele Menschen aus so unterschiedlichen Umgebungen in einen Raum zu packen. Ich fürchte, dass bis dorthin bereits andere Maßnahmen getroffen worden sind, möglicherweise auch diese berüchtigte Ausgangssperre, die in den letzten Tagen so von sich Reden gemacht hat. Na ja, ich werde mich bestimmt nicht langweilen, vielleicht mal den ein oder anderen Lagerkoller durchstehen, aber das Schreiben hilft wie immer sehr; ein treuer Begleiter, stets an meiner Seite, stets möglich, einzige Voraussetzung: Blatt und Stift. Oder in meinem Fall: meine altbekannte mobile Computer-Tastatur, die bereits so viele Anschläge hat überstehen müssen. Jedenfalls noch einige Gedanken zur Langeweile …
Ich habe heute eine wunderbare Nachricht gelesen, deren Inhalt eine andere Seite all dieses Schreckens offenbaren wollte. Wie du weißt, ist es seit jeher mein innerstes Credo, zu versuchen, allem etwas Gutes abzugewinnen. Dieses Textstück vertrat ebenfalls diese Auffassung. Die Kernaussagen erinnerte mich an einen Gedanken, der mich schon seit längerem verfolgt, nämlich den nach einer Chance. Was wenn, was wenn … Was wenn hier eine Chance wartet, die lediglich bisher noch von zu wenigen Menschen gesehen wurde? Ohne den Schaden zu schmälern oder in irgendeiner Weise gut zureden, denn dieser Virus ist und bleibt eine schlimme und verhängnisvolle Schattenseite in unser aller Leben, aber vielleicht geht mit ihm auch etwas Verheißungsvolles einher. Eine Chance. Eine Chance, zu beweisen, dass wir all den schlimmen Meldungen zum Trotz eine gewaltige Gemeinschaft, eine Familie sein können.

Was, wenn neben all dem Nachteil, den unsere Industrie gerade erleidet, dadurch, dass viele Maschinen still stehen, Schiffe in ihren Häfen treiben und nicht durch die Weltmeere tuckern, Flugzeuge am Boden bleiben, die Produktion vielerorts auf der Welt zum Erliegen gekommen ist, ein Großteil der Autos in ihren Parkbuchten ruht, weniger Rauch, CO² und anderes Abgas gen Himmel steigt, weniger Wälder abgeholzt, weniger Meere leer gefischt, weniger Polkappen weggeschmelzt, weniger Regenwälder niedergestreckt, weniger Tiere ihres natürlichen Lebensraumes beraubt, gejagt und hingeschlachtet werden, weniger Müll und Ausstoß angelagert wird und viel mehr eine Zeit der Ruhe und des Stillstands herrscht.

Was, wenn dies ein Zeichen von oben ist, eine Chance für die Erde einmal tief durchzuatmen, ihre Reserven aufzufrischen und sich eine wohlverdiente Pause vom ständigen Traktiert- und Ausgenommenwerden zu nehmen.
Was, wenn neben all dem Bewältigen der neuen Aufgaben, die durch Kita- und Schulschließungen, Geschäftsschließungen, Home-Office und Arbeitsausfällen entstehen, eine Chance lauert. Eine Möglichkeit auf gemeinsame Zeit zwischen Mutter und Kind, innerhalb von Familien, die nun in einer solchen Krise umeinander wissen und sich gegenseitig Kraft geben können, ohne sich um den anderen allzu große Sorgen machen zu müssen.

Was, wenn hinter all dem Beklagen über zu viel Langeweile aufgrund des Rückzugs in die eigenen vier Wände, des Nicht-besuchen-könnens von Cafés, Veranstaltungen, Bars, Museen, Kinos, dem hektischen Treiben der Fußgängerzonen, Konzerten, Uni-Veranstaltungen, Sportstätten, Kursen und sonstigen sonst so anstehenden Verpflichtungen eine Chance wartet. Ja, vielleicht sogar eine Verpflichtung, der man sich selbst viel zu lange entzogen hat, nämlich der, zur Ruhe zu kommen und zu sich selbst zu finden. Sich mal wieder wirklich ohne äußere Einflüsse mit dem eigenen Ich auseinanderzusetzen und zu erkennen, wie sehr man doch eigentlich fremdbestimmt und von anderem abhängig gemacht worden ist. Möglicherweise stößt man bei dieser Reise, in der man sich selbst wie ein seltener Teilnehmer, ein seltener Besucher des eigenen inneren Raums vorkommt, auf geradezu grandiose Erkenntnisse.

Was, wenn wir all das hier durchleben, um auf eine sehr harte Weise daran erinnert werden zu müssen, wie wenig wir doch eigentlich zum Leben brauchen. Eine Chance, uns gewahr zu machen, wie stark unser alltägliches Leben von Konsum und Luxus gekennzeichnet wird und welche Werte und Dinge wirklichen Wichtigkeitsanspruch besitzen sollten.

Was, wenn es trotz all den bisher sehr wohl zu beklagenden Todesopfern eine Chance auf Leben bedeutet. Eine Chance auf zukünftiges Leben, auf Leben das nach uns Kommen wird und dessen Weichen gerade neu gestellt werden könnten, auch in Bezug auf den katastrophalen globalen Wandel. Eine Chance auf Leben, das sich gerade in dieser Pause wieder regenerieren kann, auf Leben mit- und füreinander, auf zukünftiges Leben, dass es, so grotesk es auch klingen mag, vielleicht ohne diese Krise nicht geben würde, und eine Chance all dieses Leben in seiner Vielzahl und seinem Facettenreichtum wieder richtig schätzen und werten zu lernen, dankbar dafür zu sein und es nicht als selbstverständlich anzunehmen, jeden Tag aufs Neue gesund aus dem Bett zu steigen. Eine Chance, das Leben und die Gesundheit wieder als das zu begreifen, was sie sind, ein Gott gegebenes Geschenk, das es zu behüten gilt.

Was, wenn es neben all der Unmenschlichkeit, die auf unserem Planeten Einzug erhalten hat, eine Chance für uns alle ist, endlich mal wieder zu zeigen, was Mensch sein und Menschlichkeit wirklich bedeuten. Diese Begriffe sind nicht umsonst so eng miteinander verbunden, denn für einen Mensch sollte nichts menschlicher sein, als Menschlichkeit zu zeigen.

Die Chance hierfür ist gekommen, jetzt, unverhofft, auf grausige Weise, und doch ist sie da. Denk mal drüber nach, alter Junge.