Hallo, mein alter Freund,
hast du dir je diese eine Frage gestellt? Die Frage nach dem „Wer“. Wer bin ich eigentlich? Eine Frage, die, so sollte man doch meinen, sich jeder ab und an zu stellen pflegt. Sei es in Situationen, in denen man den rechten Blick auf sich verloren zu haben glaubt, in denen sich Wegscheidungen vor einem auftun oder aber in Zeiten wie diesen, in denen wir von einer Krankheit gezwungen werden, uns wieder mehr mit uns selbst zu beschäftigen. Meine Antwort auf die Frage nach dem „Wer“ ist eben so banal wie aussagekräftig: Ein Junge, der schreiben will. Denn das Schreiben und mich verbindet eine lange, gemeinsame Geschichte.
Das allererste Mal rappelte ich im Alter von sieben oder acht Jahren mit dieser wortgewaltigen Verführerin aneinander. Ich erinnere mich noch gut daran, denn es gibt Dinge, die vergisst man nicht. Mein Vater war damals noch als Pflegedienstdirektor in einem nahegelegenen Krankenhaus angestellt und jedes Jahr am Weihnachtsmorgen, spezifischer ausgedrückt am Morgen von Heiligabend, musste er noch für einige Stunden auf die Arbeit und ich durfte ihn dorthin begleiten – immer nur an diesem einen Tag im Jahr.
Sein Büro befand sich im obersten Geschoss eines mittelalterlich angehauchten Turmes, der durch Verbindungsbauten an das eigentliche Krankenhausgebäude angeschlossen war – ein magischer Ort. Nicht nur das von außen imposante Steingemäuer beeindruckte meinen kindlichen Geist, auch die Innenräume, zwar renoviert und dem Stand der Technik angepasst, waren nach wie vor im Stil einer ritterlichen Burg gehalten. Während mein Vater seinen Terminen und Verpflichtungen beikam und seine Sekretärin im Vorzimmer in die Tasten ihrer Computertastatur hieb, durfte ich meine Zelte im rundlichen Büro am Schreibtisch meines Vaters aufschlagen und die atemberaubende Atmosphäre genießen, die mich damals faszinierte, wie kaum eine zweite. Schnee an Weihnachten war zu jener Zeit und anders als heute keineswegs als Rarität anzusehen, sondern vielmehr eine gewohnheitsnahe Gegebenheit, und so wirbelte er auch an diesem Tag wie wild vor dem Turmfenster umher und schickte seine Millionen Flocken hinab ins Tal.
Alles an dieser Umgebung würde mich später einmal an eine ganz bestimmte, Welten verändernde Geschichte erinnern, die jedoch zu dieser Zeit gerade erst ihren Anfang genommen hatte und sich meinen kindlichen Augen noch für einige Jahre verborgen halten sollte, deren Einfluss auf mein Schreiben jedoch unbestreitbar mächtig werden würde. Aber dazu ein ander Mal mehr und zurück an den Schreibtisch im Büro meines Vater, wo ich soeben die Vorhänge zugezogen, den Bürostuhl auf die richtige Größe eingestellt und die goldene Lampe zu meiner Rechten angetippt hatte. Alljährlich, wenn die Uhren auf Weihnachten zusteuerten, wuchs in mir nicht nur die Vorfreude auf das eigentliche Fest, sondern auch auf diese wenigen, für mich einzigartigen Stunden hoch oben im warmen Innenraum unter dem weiß gepuderten Zinnendach.
Ich kann nicht beschreiben, welch besondere Macht an diesem Ort herrschte, die mich derart in ihren Bann zu ziehen vermochte, aber ich bin sicher, dass meine innerlichen Weichen dort neu gestellt wurden. Wie in den Jahren zuvor hatte ich Stifte und Blätter zum Malen erhalten, doch aus irgendeinem Grund griff ich an besagten Morgen lediglich zu einem blauen Kugelschreiber und begann, meine erste Kurzgeschichte zu schreiben. Ich schrieb, ohne nachzudenken, und als wäre es das Verständlichste auf der Welt, während die Stunden nur so dahin rasten und die Schneedecke auf dem Fensterbrett, nun dem Blickfeld meiner Augen verborgen, unaufhörlich zu wachsen bestrebt war. Als mein Vater gegen Mittag hereintrat, um mich abzuholen und mich dadurch aus den Tiefen meiner Imagination befreite, lagen meine ersten selbst verfassten Seiten unter mir auf der mahagonifarbenen Holzplatte. Das Gefühl, welches mich beim Anblick des Geschriebenen durchströmte, ist schwerlich in Worte zu fassen. Man weiß, mehr als das man es fühlt, dass man nun angekommen ist, dass man richtig ist, dass man dies für den Rest seines Lebens tun möchte, tun muss, denn man möchte es keinesfalls mehr missen.
Ein lange Episode habe ich damit zugebracht, alte Kartons, Kisten, Schränke und Regale im Keller zu durchforsten, doch leider blieb diese, meine erste Geschichte bis heute verschollen. Sollte sie sich damals noch irgendwo versteckt gehalten haben, so wird sie mittlerweile sicher vom Strudel der Zeit verschluckt worden sein oder von einem der zahlreichen Umzüge meiner Familie …
Sie existiert heute nur noch in meiner Erinnerung, in meiner Erinnerung an diesen besonderen Moment vor so vielen Jahren, als ich völlig unwissend und unvorbereitet, wie Kinder es immer sind, auf die größte Leidenschaft meines Lebens traf – und dort wird sie auch immer verweilen. Denn selbst wenn fragmentarische Zeugnisse verwehen, so wird man sich doch stets an die Geschichten erinnern, die unsere Zeiten prägen – natürlich unter der Prämisse, dass es Menschen gibt, die bereit sind, sie zu erzählen.
Auf bald!